Aufgabe

Wieder war es eine Frau. Meistens sind es Frauen, die ihn zwingen zu erkennen. Die Frauen wissen nichts von dieser Aufgabe. Sie tun einfach, was sie tun. Sie sind einfach, wer sie sind. Einige... Besondere...

Sie wirkt auf ihn wie ein Spiegel seiner selbst. Hatte er endlich das gefunden, was er immer gesucht hatte? Einen Menschen, der so war wie er. Mit den Schwächen, Stärken, Ängsten und Motivationen? Ein Mensch der genau so litt, wie er - und vielleicht mit ihm die Liebe entdecken könnte, die beide in sich tragen?

Er wusste es nicht. Nachdem ihm Monate zuvor ziemlich schwindlig wurde, nachdem er gezielt, aber ohne es wirklich zu wissen oder erwartet zu haben ein gutes Stück seiner Ritterrüstung aufgelöst hatte. Diese Ritterrüstung hatte ihm Schutz gegeben - Schutz und Halt. Er jedoch hatte sich auf den Weg gemacht das zu werden, was er eigentlich schon längst ist. Wasimmer das sein mag. Er weiß es gerade nicht. Aber ihm ist klar, daß er nicht die Ritterrüstung ist, also sortiert er zumindest die mal raus.

Nach dem Schwindel, der allerdings eine Weile andauerte und sich auch entsprechend ankündigte nun also die Amnesie. Vergessen? Nein, eigentlich endlich erkennen, daß er noch nie wirklich etwas wusste. Er hatte, so wie all die anderen irgendwann gelernt, sich einzubilden etwas zu wissen. Man kann sich das leicht vorstellen. Du kannst Dir das leicht vorstellen, denn Du machst es genauso.

Und jetzt war auf einmal alles offen. Zu gerne hätte er eine klare Aussage gehabt. Ein klares Wissen. Jemanden, der ihm sagt "ok, das wird am Anfang etwas schwer, aber bleib dabei, zieh's durch und geniesse dann die Ernte". Geht es jetzt um die Frau oder die Vision?

Welche Vision?

Na, die hatte er nach dem Schwindel. Am Höhepunkt dieses Schwindels hatte er jeden Halt verloren - insbesondere den der visuellen Wahrnehmung. Mit offenen Augen drehte sich die Welt um ihn. Dieser Zustand kam einfach, und er wusste nicht, wie lange er dauern würde.

So arbeiten? Unmöglich. Er kannte jemanden, bei dem der Schwindel angeblich schon ein Jahr andauerte. Und wie würde er dann die Miete zahlen? In kurzer Zeit würde seine scheinbare Autonomie sich in Luft auflösen. Er würde abhängig werden, oder vielleicht gar ein Penner. Das war an diesem Samstag nicht abzusehen. Es hätte ewig so weitergehen können - aber dabei hätten ihn über kurz oder lang die Mühlen der Gesellschaft einfach zerrieben.

Also erkannte er, daß er sein Leben eben nicht in der Hand hat. Es passiert einfach. Scheinbar kann er entscheiden, aber am Ende ist es doch nur ein Film, den er aus der Ich-Perspektive erlebt. Und für's erste erlebt er nur seine Perspektive. Aber in diesen Tagen hatte er auch eine höhere Perspektive einnehmen dürfen. Eine Sicht aus Augen, die nicht von innen nach außen sehen, sondern einfach nur sehen und beobachten. Ohne Identifikation... vielleicht ohne Wissen, einfache Wahrnehmung ohne Verzerrung.

Hatte er sein Leben gar nicht selbst in der Hand, würde es auch keine Rolle spielen, ob er sich nun anstrengt oder nicht. Es würde gar keine Rolle spielen, ob er Angst hat, oder mutig ist. Das einzige, was er dann wirklich tun könnte, ist beobachten und fühlen. Aus diesem Erkennen entstand eine tiefe innere Gelassenheit. Und aus dieser tiefen inneren Gelassenheit wurde eine Vision geboren.

Eine Vision, die es umzusetzen galt. Er hatte schon viele solche Visionen. Kleine, die er auch umsetzen konnte. Aber die größeren führten ihn immer zum Versagen. Er versagte, weil er Angst hatte, zu versagen. Oder zurückgewiesen zu werden, was für ihn wohl noch viel schlimmer ist.

Diesmal sollte es anders werden. Aber nach einigen Tagen des Rausches der inneren Getragenheit, der inneren Allwissenheit über den großen Plan, löste sich wieder alles auf. Die Auflösung begann, als er sich an seiner eigenen Vision festhalten wollte. Er wollte sie greifen, und da wurde deutlich, daß es eben doch erst eine Vision war, und nichts, was man greifen könnte. Eine Vision, die es umzusetzen gilt, die er aber nicht umsetzen kann, weil er sich lieber an der Vision festzuhalten versucht, als sie zu verwirklichen.

Verwickelt, das.

Und wie war das jetzt mit der Frau? Ach... das hatten wir schon. Er hatte das schon. Immer wieder und wieder. Glaubt er. Denn dann wüsste er, wie es ausgehen würde. Dann wäre es zwar nicht schön, aber zumindest eine sichere Sache. Glaube ist so viel wert wie Hoffen, und beides ist für Menschen, die mit der Wirklichkeit nichts zu tun haben wollen. Er aber möchte die Wahrheit erkennen. Glaubt er zumindest.

Jedenfalls hatte diese Frau, vermutlich ohne auch nur die geringste Ahnung zu haben, was sie da tut, in ihm etwas ausgelöst. Irgendwas. Vielleicht war es auch so, daß etwas in ihm ausgelöst werden sollte. Und sie nahm diese Aufgabe an, weil aus der so entstehenden Inszenierung auch sie etwas lernen könnte. Er weiß das nicht. Ich weiß das nicht, weil es gerade keine Rolle spielt.

Er glaubt immer noch, er könnte alles alleine machen. Das dies ein Irrglaube ist, erkennt er immer nur dann, wenn es um Sex geht. Diese höchste Form der spirituell-physischen Vereinigung zweier Individuen ist eben alleine unmöglich. Das kapiert er sofort, und deshalb ärgert er sich auch schrecklich, daß das mit den Frauen nie so klappt, wie er es sich vorstellt.

Ärgert sich. Spürt die Enttäuschung. Fühlt sich einsam. Isoliert. Minderwertig.

Also meditiert er. Nicht wirklich, aber er tut zumindest so. Baut großartige Energien auf. Aber was er auch tut, er entkommt nicht diesem Gefühl der inneren Leere. Dieses Gefühl, gar nicht wirklich zu existieren, wenn man nicht jemanden hat, der einen erkennt. Weil man verlernt hat, sich selbst zu erkennen.

Am liebsten hätte er sich so, daß er alles alleine machen kann. Niemanden brauchen. Von niemandem abhängig sein. Keine Hilfe brauchen.

Er meditiert in Stille. Er spielt Gitarre. Ein schönes Picking fällt ihm zu, und er spielt es... wieder und wieder... aber da fehlt etwas. Dieses Picking ist nur ein Bruchstück eines Liedes. Dieses Lied gibt es, aber es kann nicht entstehen, weil etwas fehlt. Und dann macht es klick, klick, klick, und er erkennt: er braucht Menschen, die ihn ergänzen.

Hat er aber nicht. Deshalb wollte er nicht sehen, daß er sie braucht. Jetzt, wo er es sieht fühlt er sich noch minderwertiger, noch einsamer, noch isolierter als je zuvor. Mal wieder bricht eine der schönen Welten, die er sich zurechtfantasiert hat zusammen. Es wird, so wie er es sich vorstellt einfach nicht klappen. Niemals.

Wenn er dies jedoch erkennt, kann er seine Vorstellung fallen lassen. Dadurch verändert er sich. Dadurch verändert sich sein Leben. Wie es wird weiß er natürlich nicht, aber er weiß zumindest, es wird.

Er hört jetzt gerade "I want you now" von Depeche Mode und schreibt sich selbst seine Geschichte.


© 2000-2011, Jashan Chittesh (fka Holger Wagner) (http://www.ramtiga.com)
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Last modified: Wednesday February 07 2001
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