Freunde

Hey Du, komm mit. Vertrau mir. Habe keine Angst. Ich würde Dich gerne mitnehmen. Ich weiß, ich bin einsam und allein. Ich weiß, Du bist es. Ich weiß nicht, ob ich Dir erklären kann, wohin wir gehen könnten. Wie wir gehen würden. Aber wenn Du mir wirklich vertrauen kannst, sind wir vielleicht schon losgegangen. Und wenn nicht, muß ich wohl alleine gehen.

Dich brauche ich, weil Du den Teil von mir verkörperst, der nicht gehen will. Wenn ich Dich überzeugen kann, überzeuge ich mich selbst. Scheinbar denke ich, es sei einfacher in der Außenwelt etwas zu erreichen, als innen. Und wenn ich das so verstehe, wird mir bewusst, daß ich schon wieder auf dem Holzweg war. Aber jetzt, wo ich das weiß, kann ich den Weg gehen: anstatt an Dir zu zerren, lasse ich es bei mir wirken. Ich bin einsam. Verdammt einsam. Einsam und unsicher. Es tut weh, so unsicher zu sein. Ich würde die Unsicherheit gerne greifen, eindringen - sie zersprengen. Aber das geht so nicht. Ohnmacht. Wo ist der Weg? Was muß ich tun? Fühlen...

Einsamkeit ist ein schrecklicher Zustand. Ich fühle mich abgeschnitten von meinen Mitmenschen. Von meiner Umwelt. Von mir selbst. Wie ein Stein, der an einem Weg liegt, an dem niemand jemals vorbeikommt. Den niemand jemals hochhebt und ansieht. Ein Stein - tot, klein, hilflos, kalt. Es tut so verdammt weh, sich wie ein solcher Stein zu fühlen. Aber genau so fühle ich mich gerade. Natürlich werde ich aus dem Gefühl jetzt rausgehen, so wie ich es mir beibringen ließ. Ist doch eine blöde Metapher - bin doch gar kein Stein. Ich hab doch lauter Menschen um mich herum, die mit mir sprechen, die mich mögen, die mich schätzen. Aber wenn ich diesen letzten Satz wirken lasse, wird mir bewusst, daß das eine Illusion ist. Nichts weiter, als daß womit es angefangen hat: der Versuch, nicht fühlen zu müssen. Das will ich nicht. Also weiter:

Ich fühle mich immer noch wie ein toter, kleiner, hilfloser, kalter Stein. An einem Weg, den niemand geht. Nie wurde ich richtig erkannt. Niemand hat mich je erkannt. Ich bin zwar nur ein Stein, aber ich bin doch wunderschön. Ich bin so ruhig und ausgeglichen. Aber da versuche ich, die Hilflosigkeit zu überspringen. So gerne würde ich einfach den Menschen ins Gesicht springen. Ihnen meine Schönheit erklären, damit sie zu meinem Weg kommen. Aber echte Menschen gibt es nur wenige. Die, denen ich das gerade schreibe, sind ja selbst Steine - die darauf warten, erkannt zu werden. Die glauben, überall seien Menschen, die sie erkennen und schätzen. A world of illusions...

Dabei liegen wir alle an einem Weg, den kaum jemand geht. Eigentlich markieren wir den Weg. So wie wir daliegen kann ein Mensch, der den Weg geht diesen Weg erkennen. Immer wieder und wieder. Er kann uns sehen, aufheben - und sagen: "Hey Du, komm mit. Vertrau mir. Habe keine Angst. Ich würde Dich gerne mitnehmen. Ich weiß, ich bin einsam und allein. Ich weiß, Du bist es. Ich weiß nicht, ob ich Dir erklären kann, wohin wir gehen könnten. Wie wir gehen würden. Aber wenn Du mir wirklich vertrauen kannst, sind wir vielleicht schon losgegangen. Und wenn nicht, muß ich wohl alleine gehen." Und dann innehalten. Und fühlen, was der letzte Satz eigentlich bedeutet.

Da war wieder die Einsamkeit. Viele Worte, um nicht dieses schreckliche Gefühl spüren zu müssen. Haarscharf an der Erlösung vorbei. Niedergeschlagenheit. Werde ich es jemals schaffen? Ich werde Einsamkeit. In mir, um mich herum und durch mich hindurch nichts als Einsamkeit. Und dann fühle ich nichts mehr. Eine Leere, die jedes Leben in sich aufzusaugen und zu vernichten scheint. Ungreifbar - unbegreifbar. Es tut so verdammt weh, leer zu sein. Angst. Angst davor, daß ich mich auflösen könnte, in dieser Leere. Was ist "ich"? Ich bin gerade der Mechanismus, der vor der Einsamkeit wegrennt. Ich werde mich gleich auflösen. Leere... Laß Dich nicht ablenken, bleib dran! Raum. Aus der Leere wird Raum, und ich fühle Wärme. Eine innere Ruhe, die mich durchströmt und alles ausfüllt.

Erst jetzt bin ich bereit, Dir in die Augen zu sehen. Jetzt bist Du nicht mehr der Stein, den ich auf meine Wunde lege - sie verdecke, ohne sie zu heilen. Jetzt bin ich endlich fähig, Dich als das zu erkennen, was Du wirklich bist: ein Mensch. Ein Mensch hinter einer Fassade, vielleicht. Ein Mensch mit großen, schweren Steinen auf seinen Wunden - Steine, die ihm jede Kraft zu leben rauben. Aber ich weiß - ich fühle, Du bist da. Vielleicht glaubst Du gerade, Du bist ein Stein. Dann fühl Dich wie ein Stein. Trau Dich - vertrau mir.

Sei der Stein, der Dir jeden Raum zum Atmen nimmt - und dann lös Dich einfach auf. Du kannst ihn nicht zerschmettern. Egal, wie fest Du zudrückst - er ist immer stärker, als Du. Egal, wie weit Du ihn wirfst - er fällt immer auf Dich zurück. Und wenn Du wegrennen willst bekommt er Beine und läuft Dir nach, holt Dich ein und erschlägt Dich. Aber wenn Du selbst zum Stein wirst, dich fallen lässt, Dich weich werden lässt - dann kannst Du in die Wunde fließen, die Du so krampfhaft zu verdecken versuchst. Du kannst sie fühlen, Dich in ihr auflösen - und sie heilen.

(Irgendetwas stimmt hier nicht? Gut erkannt - lies weiter)


© 2000-2011, Jashan Chittesh (fka Holger Wagner) (http://www.ramtiga.com)
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Last modified: Monday September 18 2000
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