Herbst

Plötzlich war Herbst. Die Luft riecht jetzt anders. Irgendwie frisch. Nach einigen düsteren, wolkenverhangenen Regentagen zeigt sich die Sonne mal wieder - und da werden die wunderschönen Farben deutlich, die das Laub der Bäume angenommen hat. Eine Stimmung von Veränderung liegt in der Luft - und ich spüre sie. Diese Stimmung durchdringt mich, fließt durch mich hindurch. Und so erkenne ich, wer ich bin.

Der Herbst steht für Sterben. Ein Prozess, indem das Alte sich auflöst - vernichtet wird. Teilen von mir geht es nicht anders. Die letzten Tage waren ein Fest der Vernichtung für mich. Jene Teile, die dabei aufgelöst werden sträuben sich natürlich. Und so fiel es mir sehr schwer, bei mir zu bleiben. Immer wieder verlor ich mich in Aktivitäten - mechanisch abgespulte Verhaltensmuster, ohne Leben.

Und doch konnte ich manchmal auch zu mir kommen. Spüren, was da gerade passiert. Ein tiefes Gefühl von Ohnmacht und Hilflosigkeit. Ein schneidender Schmerz, daß ich das, was ich mir wünsche und brauche nicht bekommen kann. Habe ich jedoch all die Ablenkungen und Tarnungen des konkreten Lebens aus dem Weg geräumt, sehe ich klar und deutlich, was mir fehlt: Liebe und Sex. Ist doch eigentlich nicht viel, oder?

Daß ich das nicht bekomme, macht mich auch wütend. Wie komme ich überhaupt in so eine Welt, wo fast alles so saumäßig kompliziert, verbogen, beschissen und verlogen ist? Ach ja, klar: durch meine Mutter. Wenn man in diese Welt will, geht man durch eine Mutter. Und wo vorher alles frei und locker in einem wunderschönen Fluß der Liebe lief - wo man alles haben konnte, was man braucht - da steckt man auf einmal in dieser Mutter und kommt nicht heraus. Irgendwann doch, aber was ist dann schon noch von einem übrig?

Ein hilfloses kleines Lebewesen, daß nichts bewegen kann. Es kann nicht einmal ausdrücken, was es braucht. Entweder, es bekommt das, was es braucht - oder eben nicht. Und meine Erfahrung ist, daß man im Großen und Ganzen nur das bekommt, was unbedingt zum Überleben notwendig ist. Ein bißchen Zuwendung, Nahrung, frische Windeln. Ein schrecklicher Zustand von Hilflosigkeit und Ohnmacht... und irgendwie ist das aussichtlos. Man würde gerne, kriegt aber nicht - und das ist zum Verzweifeln.

So also war die Landung... nicht gerade erfreulich, das. Wenn ich genau hinsehe, kann ich eigentlich nicht viel mehr erkennen, als daß da ein unheimlicher Mangel entstanden ist. Ein Mangel an Leben. Ein Mangel an Liebe. Und obwohl ich weiß, daß ich ein lebendiges Wesen der Liebe war und bin, wusste ich zumindest damals nicht, wie ich das, was mir da fehlt aus mir selbst heraus bekommen könnte.

Also entstanden Wünsche: Der Wunsch nach neuen Windeln. Der Wunsch nach tollerem Spielzeug. Ein neuer, besserer Computer muß her - und natürlich eine tolle Frau, die mir all das gibt, was ich von meiner Mutter nicht bekam. Und wenn ich nur ein Auto und ein Handy besitze, dann könnte ich mich schon fast so frei bewegen, wie damals - bevor ich in dieser begrenzten Form landete.

Damit all diese Wünsche nicht nur Wünsche blieben, sondern auch irgendwann ihre Erfüllung zu mir kommen könnte - überhaupt: die Erfüllung - musste ich mir natürlich etwas einfallen lassen. Erstmal war ich lieb und nett zu meiner Mama. Gucke sie mit großen, hilfsbedürftigen Augen an. Und zeige ihr nicht, daß ich sie eigentlich für ein verbogenes, unehrliches Monster halte. Ist sie ja auch gar nicht, ist ja meine liebe Mama, die mich am Leben erhält. Zumindest meinen Körper.

Mit der gleichen Strategie würde ich auch Spielzeug bekommen. Hier und da musste ich mal ein bißchen rumjammern, und armes kleines Kind spielen - dann würden sie Mitleid mit mir haben, und aus diesem Mitleid heraus mir Sachen kaufen. Und wenn ich dann Spielzeug hatte, konnte ich damit ganz tolle Sachen machen - das hat sie sehr gefreut, und ich hatte ein schlagendes Argument für besseres, tolleres Spielzeug, denn damit könnte ich besser und toller spielen und ihnen so eine bessere, tollere Freude machen. Immerhin bin ich schlau geblieben.

Die anderen Menschen waren irgendwie nicht so freigiebig. Aber recht schnell fand ich heraus, daß man von denen alles bekommen kann, wenn man nur Geld hat. Also musste ich nur herausfinden, wie ich an genügend Geld komme, um eben alles, was ich so brauche kaufen zu können. Geld bekommt man hier meistens für Arbeit. Und je besonderer die eigene Arbeit ist, desto mehr Geld bekommt man. Überhaupt ist es ganz wichtig, etwas Besonderes zu sein. Blos nicht so ein Durchschnittszombie sein, wie der Rest. Ich würde fast alles tun, um anders zu sein, als die anderen - und besonders freut es mich natürlich, wenn ich dabei auch noch gut dastehe, denn so kann ich's diesen Idioten so richtig zeigen.

Mit dem Erfolg kommt auch die Anerkennung, und Handy und Auto kann ich mir jetzt auch ganz easy leisten. Was für ein tolles Leben hab ich mir da ausgesucht, ich bin erfüllt und hab's geschafft. Juchuu!

Aber da war noch was. Verdammt... Frauen. Manche von denen kann man auch kaufen, aber letztlich möchte ich ja Liebe, und einen tiefen Seelenkontakt. Und daraus soll dann Sex entstehen. Mit den Kauffrauen klappt das nicht. Aber mit den anderen? Was ist mit denen blos los? Entweder, sie sind mit ihrer Mutter verklebt, und da passe ich dann natürlich nicht dazu. Oder sie sind mit einem Ersatz für ihre Mutter verklebt, und dazu passe ich auch nicht. Oder sie wünschen sich, verliebt zu sein, und das klappt am ehesten noch mit denen, die mit ihrer Mutter verklebt sind - aber da geht ja nichts, weil sie eben mit ihrer Mutter verklebt sind. Und bei denen, bei denen was gehen könnte, fehlt dann aber diese Ecstasy-Einfahrt "Verliebtsein", und dann wollen sie nur das eine, aber nicht das andere und...

Das tut schrecklich weh. Da bin ich dann wieder das kleine Kind, daß sich Liebe und Sinnlichkeit wünscht, aber davon nichts bekommt. Hilflos, Ohnmächtig... und über diese Aussichtslosigkeit verzweifelnd. Weil es immer das gleiche ist. Andere Frauen, andere Geschichten, andere Vorstellungen - aber die Idee ist immer dieselbe. Das bringt mich um. Mich, der sich das alles wünscht und auch immer einen Weg findet, zu bekommen, was er will.

Und wo ich so durch die Herbststadt wandere, die Herbstluft atme - die Veränderung spüre - da wird mir klar, daß es genau darum geht: umgebracht werden. Inzwischen weiß ich, daß nicht ich es bin, was da vernichtet wird. Es sind nur die Teile von mir, die ich mir zugelegt habe, um in dieser Welt zu überleben. Angesammelter, lebloser Müll. Das Ego. Ja, das böse, böse Ego. Das müssen wir wegbekommen. Sagen ja irgendwie auch alle Esoteriker und sonstige selbsternannte Hüter der einzigen Wahrheit. Das Mechanische, Unmenschliche einfach wegmachen. Aber mit Abstand will ich nichts mehr zu tun haben, und deshalb nenne ich die Dinge gerne bei Namen, die den Menschen vertrauter sind, als z.B. Ego.

Ich mag keine halbseidenen Lippenbekenntnisse mehr. Kein einlullendes Gelaber von Liebe, Mitgefühl und Herzlichkeit. Jetzt in diesem Moment, ist Zeit für Klarheit. Und diese Klarheit zeigt, daß es ein Krieg ist, den ich führe. Es ist der letzte Krieg des menschlichen Daseins - die letzte Grenze. Alle anderen Grenzen waren nur Grenzen innerhalb des Alten. Ein anderer Kontinent. Andere Planeten. Andere Philosophien und Religionen. Andere Kommunikationsmittel, andere Krankheiten und Gesellschaftsformen. Was ist das schon? Von einem Bereich in der Welt, in einen anderen in der gleichen Welt. Das ist allenfalls ein Nomadendasein, aber immer in der gleichen Wüste. Wir hatten das schon - tausendfach, immer wieder und wieder das gleiche in anderer Spielart. Um dafür einen Krieg zu führen, muss man schon ein ziemlich erbärmlicher Vollidiot sein. Diese ganzen Kriege und Karrieren dienen doch letztlich immer nur dem gleichen Ziel, das zu erreichen, was man sich wünscht. Und jeder wünscht sich, weil es ihm an irgendetwas mangelt, was er eigentlich in sich trägt, aber zu blind und verkleistert ist, das zu erkennen.

Nein - dieser Krieg ist ein völlig anderer. Es ist nicht der Krieg an irgendeiner Grenze in der physischen Welt - es ist der Krieg an der Grenze der Welt überhaupt. Und diesen Krieg führt man gegen die eigene Persönlichkeit. Ja, gegen Deine verdammte Persönlichkeit - gegen Dich. Ein Krieg gegen die eigene Maskierung - die eigene Tarnung. Ein Krieg gegen das, was die meisten Menschen, die mich treffen für das halten, was mich ausmacht - weil sie das, was mich eigentlich ausmacht gar nicht erkennen können. Und manchmal verwechsle ich mich sogar selber. Teuflische Entfremdung. "Wir wurden so lange verkannt, bis wir gelernt hatten, uns selber zu verkennen!"

Dieser Krieg ist einzigartig, weil er nicht mit "den besseren Waffen" gewonnen werden kann. Jede Waffe, die mir zur Verfügung steht, steht immer auch meinem Gegner zur Verfügung. Er kann mir wunderschöne Welten vorspielen, wo eigentlich der pure Schrecken ist. Er kann mir die Hölle vorspielen, wo eigentlich der Himmel ist. Er kann in die Zukunft sehen, und mir Erfahrungen vereiteln, die ihn enttarnen würden. Er kann mir alles geben, und alles nehmen, was ich kenne. Er kann mich auf Irrwege führen, die meine Entwicklung zum Stillstand bringen. Und wenn ich nicht aufpasse, lässt er meine Entwicklung direkt erstarren, indem er mich ins Sträuben bringt.

Alles, was Menschen in ihren tausendfachen Kriegen gegen andere und sich selbst einsetzen, steht diesem Gegner zur Verfügung. Er hat nur einen Nachteil: er ist von dieser Welt. Und ich bin das nicht. Deshalb ist dieser Krieg so bedeutsam - für mich, und für jeden Menschen, der erkennt, daß er sich selbst nur befreien kann, indem er diesen Krieg durchsteht. Ein Mensch hat diesen Krieg dann gewonnen, wenn alles, was ihn an diese Welt bindet vernichtet ist - wenn er losgelassen hat, und nie wieder an irgendetwas festhalten muß.

Und ich habe eine tiefe Entschlossenheit das alles loszulassen. Weil ich nicht von dieser Welt bin, steht mir etwas zur Verfügung, was mein Gegner nie besitzen wird: Bewusstheit. Ich kann bewusst und akzeptierend fühlen, was wirklich ist. Natürlich hat das Ego ein großes Interesse daran, diese Fähigkeit zu sabotieren, wo es nur geht - aber ich habe Verbündete. Andere Menschen, die den gleichen Krieg führen und viele Schlachten gewonnen haben. Manche haben den Krieg endgültig gewonnen und sind nun für immer frei und in Frieden. Bei denen wird nicht mehr sabotiert, und daher kann ich ihnen vertrauen.

Wann immer eine Schlacht gewonnen ist, entsteht Frieden. Was mich von mir selbst entfernt hat, wurde aufgelöst - und ich gehe in meiner ursprünglichen Form auf.

Manchmal jedoch, passiert es sogar, daß man sich selbst mit der eigenen Persönlichkeit verwechselt - dem Konstrukt aus Mechanismen, dem Korsett, welches man einst zum Überleben brauchte. Man kann sich dann vernichten lassen, aber dabei sollte bewusst sein, daß nur die Persönlichkeit stirbt - und nicht der eigentliche Mensch, der lebt. Aus dieser Vernichtung wird das eigentliche Wesen auferstehen, wie der Phönix aus der Asche.

Und so verlassen wir die kriegerische Welt der Illusionen, und treten wieder ein in die Welt von Wahrheit und Frieden. Jene Welt, in der wir Wesen der Wahrheit sind - Wesen der Klarheit. Wesen aus Liebe und Licht.


© 2000-2011, Jashan Chittesh (fka Holger Wagner) (http://www.ramtiga.com)
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Last modified: Tuesday September 26 2000
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