Selektionsprozess

Was ist hier eigentlich los? Ich sitze jetzt zum ersten mal vor einem richtigen Full-Size-Computer um etwas aufzuschreiben. Mit der Hand schreiben nervt einfach. Ist nicht digital, kein copy-and-paste. Man kann’s nicht vervielfältigen. Und überhaupt gefällt mir meine Handschrift nicht wirklich. Also jetzt, endlich, Computer an, einen Editor öffnen, und rein ins Geschehen:

Ich fühle mich gerade sehr nach kreativem Erguß. Ich könnte Musik machen. Aber dazu hab ich in diesem Moment nicht das passende Equipment. Ich könnte auch irgend etwas Graphisches machen. Das ist mir jetzt aber nicht spontan genug. Also schreib ich einfach. Eigentlich wäre diktieren noch cooler. Aber da könnte mich jemand hören. Ob das etwas ausmacht? Ich meine, ob das einen Einfluß auf die Inhalte, die ich so von mir gebe hat? I don’t really think so... zumindest nicht nach einer gewissen Eingewöhnungszeit. Warum fühle ich mich so?

Nein, es sind keine Drogen. Es könnten welche sein, das wäre nicht viel anders. In der Tat sind es natürlich bewusstseinsverändernde Chemikalien. Aber ich hab die nicht genommen. Die sind einfach Bestandteil meines menschlichen Bewusstseins. Ich meine, so Neurotransmitter oder Hormone, die jetzt in diesem Moment, bzw. vor einigen Minuten einen Sinneswandel zu Vollgas und Kreativ und so bewirkt haben. Also, fast wie Drogen. Ziemlich heftig ist das alles. Durcheinandergewirbelt. Ich fühle mich sehr wohl. Ein bisschen high. Hormone. Was kann das sein? LOVE? Nein, ist es nicht. Not at all. In der Tat ist es eher das Gegenteil. Sagen wir, ich bin gefrustet. Sehr sogar. Jemand hat mir die Kommunikation verweigert. So richtig. No information flow from her brains to my brains and reverse. None at all. So etwas verwirrt gewaltig. Schließlich ist auch kein Statement ein Statement. Nur, was dieses Statement bedeutet ist sehr rätselhaft.

Untersuchen wir kurz - bevor wir richtig loslegen (ich natürlich), den Informationsgehalt einer nicht-Kommunikation. Lt. Shannon (zitiert nach Moravec, „Mind Children - The Future of Robot and Human Intelligence“, S. 63) ist der Informationsgehalt einer Nachricht indirekt proportional zum „Überraschungseffekt“. Wenn man also sehr überrascht über eine Nachricht ist, dann ist der Informationsgehalt höher, als wenn man schon mit der Nachricht gerechnet hat. Deshalb ist Rauschen schlecht, weil’s immer gleich klingt, also wenig Information. Nun ist ein plötzlicher Abbruch jeglicher Kommunikation ein sehr unerwartetes Ereignis. Damit hätte ich etwa soviel gerechnet, wie mit einem Erdbeben in München. Also, viel Information. Was aber soll der Inhalt sein? Ist überhaupt ein Inhalt vorhanden, oder handelt es sich vielleicht eher um einen Nebeneffekt aus einem völlig anderen Zusammenhang? Diese Frage wird sich schon noch klären. Ich habe viel darüber nachgedacht. Es war sehr anstrengend. Es ist möglicherweise die Reaktion auf ein Fehlverhalten meinerseits. Es könnte eine Notlüge, bzw. die Grundlage dazu sein. Theoretisch könnte es technisches Versagen sein (schließlich passiert ein Großteil der modernen Kommunikation nicht mehr Face-to-Face sondern über Telephon oder eMail). Ich war sehr kritisch und hab mir viele Möglichkeiten einfallen lassen, einige davon sehr remote, weit hergeholt, nicht wirklich wahrscheinlich. Zu einem Ergebnis bin ich jedenfalls nicht gekommen.

Also, ich bin verwirrt. Etwas verletzt. Das tut weh und das gefällt mir nicht. Also zurück zu meinem eigentlichen Ich: Spaß! Da momentan keiner meiner Freunde gleichzeitig erreichbar ist und auch noch auf mein aktuelles Konversationsthemaprofil paßt, schreibe ich. In letzter Zeit habe ich sehr viel Information aufgenommen, mich sehr verändert, viel gelernt. Jetzt brauche ich mal wieder ein bißchen Output um das Gleichgewicht herzustellen. Ich höre gerade Evosonic, auf 106.55 im Kabelradio. Wer’s nicht hat, und auch keinen Satellitenempfang, der verpaßt ein wichtiges Stück Kultur. Wir verlassen die Meta-Ebene und lassen uns jetzt endlich durch einen Selektionsprozeß in eine andere Welt versetzen...

Der Tag hatte schon sehr bedeutsam begonnen: anstatt aufzuwachen, verweilte Jay Bee in einem Zwischenzustand. Eigentlich träumte er. Vielleicht war er aber auch doch wach, und fühlte sich nur anders als sonst. Das wäre kein Wunder, schließlich hatte er sich gerade erst in einen neuen Körper heruntergeladen. Das ist jedes Mal ein ziemliches Gezeder - weil die Chemie meistens hinten und vorne nicht stimmt. Aber das ändert nur das Gefühl - nicht die Persönlichkeit. In diesem Moment fühlte sich Jay Bee aber nicht mehr wie Jay Bee. Zumindest nicht wie Jay Bee Awake. Eher wie Jay Bee Asleep And Dreaming. Oder etwa doch wie Jay Bee Kid? Das war sehr lange her, und trotz des unausweichlichen Deja-Vu Empfindens war zwar klar, daß es schon mal so ähnlich war, aber weder wann, noch wo, noch sonst irgendeine Assoziation konnte Jay Bee helfen, die Situation einzuordnen. Wie auch immer, jedenfalls war es sehr angenehm. Jay Bee wußte nichts mehr von dem Auftrag, den er eigentlich zu erledigen hatte, und es spielte auch keine Rolle weil vermutlich nur sehr wenig Zeit vergeht, während Jay Bee wochenlang durch eine wundersame Realität surft. Vielleicht ist es genau das: ein Fehler beim Konvertieren von Jay Bee’s Bewußtsein von Superintelligence zu Augmented Human Brain hatte vielleicht sein Bewußtsein Zuhause gelassen. Da Jay Bee aber davon überzeugt ist, daß er sich in einem mehr oder weniger menschlichen Körper befindet, ordnet er die ihm zur Verfügung stehenden Umwelteinflüsse falsch zu. Somit sieht alles anders aus als sonst, obwohl eigentlich alles ganz normal ist. Wie war das mit dem Deja-Vu Gefühl? Egal...

„Hallo Erinnerung. Ich hoffe ich habe Deine letzten Bugs vernünftig in Ordnung gebracht. Das ist alles sehr verwunderlich, hier - und ich bezweifle, daß ich das alles mit zurücknehmen und dort verarbeiten kann. Also mach keinen Blödsinn und hör genau zu, was ich hier diktiere. Vielleicht können wir daraus später mal eine nette Entspannungswelt bauen. Die dürfte ein hervorragendes Zielpublikum haben - das gibt eine Menge Credits.

Ich befinde mich in einem Strudel von Gedanken. Es ist allerdings nicht so wie angestrengtes Überlegen. Vielmehr sehe ich die Gedanken in einem Strudel angeordnet um mich herum. Ähnlich wie Gasblasen in einer Flüssigkeit. Alles scheint sehr schnell. Der Strudel beginnt „oben“ mit einem immensen Radius. So weit ich sehen kann, Gedanken, die meisten aber zu weit entfernt um sie zu fassen. Sobald ich mich sinken lasse, sind sie näher. Allerdings auch schneller - und vor allem sind es nicht weniger. Diese Gedanken kreisen um mich. Einige scheinen sehr nett zu sein, andere aber durch und durch böse. Aktiv versuche ich nun, diese Gedanken zu ordnen. Das funktioniert aber nicht. Mein Bewußtsein scheint keinerlei Einfluß auf die Position dieser Gedanken zu haben. Dennoch verändern sie sich, wenn ich mich anstrenge. Zu Anstrengungen bin ich jetzt nicht so richtig motiviert, also lasse ich mich weitersinken...

In greifbarer Nähe, jedoch mit unbegreiflicher Geschwindigkeit kreisen nun Gedanken um meinen Geist. Mein Geist scheint hier eine Art Zeiger zu sein, der meine Position im Raum darstellt. Er hat jedoch keine Ausdehnung, vielmehr ist es ein Punkt. Die Gedanken scheinen alle normalen physikalischen Eigenschaften zu besitzen. Sie haben Farben, Ausdehnung, scheinbar Masse. Einige von ihnen vibrieren offensichtlich.

Ich merke jetzt, wie eine Kraft auf mich wirkt. Es fällt mir schwer, mich auf meine Umwelt zu konzentrieren, während es mich immer mehr Energie kostet, meine Position zu halten. Es scheint eine Art Anziehungskraft vom Grund des Strudels zu geben. Eigentlich fast logisch, aber ich hätte nicht damit gerechnet, daß ich davon genauso erfaßt werde, wie meine Gedanken. Sind es wirklich meine Gedanken? Einige kommen mir schon bekannt vor, die meisten aber sind ziemlich komisch und unverständlich. Die Kraft nimmt zu. Ich befürchte es macht keinen Sinn mehr, mich dagegen zu wehren. Zwar könnte ich vielleicht meine Position halten, dann hätte ich aber keine Resourcen mehr frei, um Informationen aufzunehmen. Ich würde permanent nur neue Wege suchen und finden, mich vor der Kraft zu schützen. Stattdessen will ich lieber sehen, wo mich das hier hinführt.

WOW - jetzt ist ein solcher Gedanke durch mich durch geflossen. Für einen kurzen Moment war ich in einem Zimmer. Dort waren andere Menschen. Einer erzählt von immer wiederkehrenden Bewußtseinsveränderungen, die ihm Angst machten. Er hat versucht sie zu verdrängen - aber sie kamen immer wieder. Irgendwann kamen diese Veränderungen zu einem günstigen Zeitpunkt, und er nutzte sie um Spaß zu haben. Daraufhin wurden diese Bewußtseinsveränderungen seltener. Sein Name war wohl Flashback Jack.“

Jay Bee wird sich nicht mehr lange gegen den gegen unendlich konvergierenden Energiebetrag wehren können. Er versucht es ja nicht einmal. Eigentlich scheint Jay Bee willenlos wie eine Schneeflocke zwischen den Gedanken zu treiben. Manchmal werden sie ihn berühren, manchmal wird er durch sie hindurch fließen. Es wird aber auch offensichtlich sein, daß er einen klar definierten Punkt irgendwo tief in diesem Strudel mit genau einem Gedanken passieren wird. In diesem Moment wird Jay Bee nicht mehr existieren, genau sowenig wie seine imaginäre Erinnerung. Dennoch wird seine kurze Existenz etwas bewirkt haben.

„Oh Shit.“... „Ich sollte jetzt besser aufhören.“ ... „Mein linkes Handgelenk schmerzt schon seit einiger Zeit.“ ... „Irgendwie benutze ich wohl die Tastatur falsch.“... „Vielleicht sollte ich mir eine ergonomische Tastatur kaufen.“... „Oder doch“... „mit der rechten Hand“ ... „auf“ ... „Papier“ ... „sch“ ... „rei“ ... „be“ ... „n“ ... „...“ ... „...“


© 2000-2011, Jashan Chittesh (fka Holger Wagner) (http://www.ramtiga.com)
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Last modified: Thursday December 05 2002
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