Weg der Erkenntnis

Er stand vor dem Abgrund. Eine Klippe. Hinter ihm das Land der Illusionen. Er denkt nach... Erinnerungen. Erinnerungen an Gemeinsamkeit. Soll das etwa nur ein Traum gewesen sein? Aber eigentlich kennt er die Antwort. Diese Welt der Vertrautheit - der wahrgenommenen Vertrautheit. Vertraut ist ihm der Alltag. In diesem Moment nimmt er nicht den tiefen Schmerz wahr, der in diesem vertrauten Alltag noch liegt. Der Schmerz der Erkenntnis, daß all das nur die Traumwelt war, in die er sich hineingelebt hat. Womit hatte all das angefangen? Er kam auf die Welt. Ein wundervoller, leuchtender, kraftvoller Mensch. Ein Wesen, daß in sich die Kraft zu Veränderung trug. Echte Veränderung. Nicht nur ein bißchen hier was schrauben, da was drehen. Nein - Veränderung direkt an der Wurzel.

Doch um ihn herum hat das keiner erkannt. Er wuchs auf mit einem Vater, der sich an seine Kinder klammerte, als sei dies der letzte Halt in seinem Leben. Es war der letzte Halt in seinem Leben - und selbst der schien nicht auszureichen. Sein Vater hatte Angst. Angst vor dem Leben. Angst, etwas falsch zu machen. Aus dieser Angst heraus lebte er. Was immer er tat war von dieser Angst geprägt. Erwachsene sehen so etwas gar nicht. Die sehen, wie liebevoll sich der Vater um seine Kinder kümmert. Wie der Vater ihnen Mut gibt, großartige Dinge zu tun. Er jedoch sah damals die Wahrheit: einen Menschen, der mit allen Mitteln verzweifelt versucht, sich selbst - seine Identität - zu retten. Und dabei jämmerlich scheiterte. Das war schrecklich. Deshalb lernte er von seiner Mutter, die Dinge nicht so zu sehen, wie sie eigentlich sind.

Seine Mutter wollte ja eigentlich nur ein paar Kinder aufziehen. Einfach nur Mutter sein. Vielleicht, weil sie in ihrem Leben keinen anderen Sinn erkennen konnte. So gerne wäre sie eine gute Mutter gewesen. So gerne hätte sie ihren Kindern wahre Liebe mitgegeben. Aber sie selbst war ja das Kind einer Frau, die sich ihr Leben lang nur auf das Sterben vorbereitete. Warum auch immer - aber einen Zugang zu sich selbst hatte die nicht. Also konnte sie auch seiner Mutter diesen Zugang nicht vermitteln. Und so wurde seine Mutter eben Mutter ohne zu wissen, was das eigentlich bedeutet. Ohne wirklich zu verstehen warum ihr Mann den Halt bei seinen Kindern suchte.

Also laß sie Bücher. In diesen Büchern wurden Zusammenhänge erklärt. Und als sie dachte, Zusammenhänge verstanden zu haben, musste sie auf einmal nicht mehr fühlen. Er sah das. Und nahm es an. Und das war das Fundament seines Lebens. Alles, was er tat baute darauf auf, nicht fühlen zu müssen. Wie sein Vater und seine Mutter wusste aber auch er, tief in seinem Inneren, daß da noch etwas anderes sein müsste.

Immer wieder brachte ihn das Leben in Situationen, die ihn aufmerksam machen sollten. Aufmerksam auf die Wahrheit. Und mit der Zeit begann er, zu verstehen. Zuerst war es nur eine unerklärliche Zuneigung zu einem anderen Menschen. Dieser andere Mensch ging auf ihn zu. So direkt, wie das kein anderer Mensch je getan hatte. Er nahm das mit Interesse wahr. Aber auch mit Schrecken. Würde das alles stimmen, was dieser andere Mensch ihm so direkt sagte, dann würde er ja vielleicht... nein, das kann nicht sein. Dieser andere Mensch solle sich doch um seinen eigenen Kram kümmern - so wie alle das immer taten. Er wusste doch selbst am besten, wer er war.

Doch sein Leben hörte nicht auf, ihn in Situationen zu bringen. Unermüdlich, immer wieder. Und so kam es, daß er Vertrauen fand. Und diesem anderen Menschen zuhörte. Und den schrecklichen Teil der Wahrheit erfuhr: Er hatte die ganze Zeit über in einer Welt aus Illusionen gelebt.

Die jetzt hinter ihm lag. Hinter ihm die vertraute Traumwelt. Vor ihm, der Abgrund. Er wusste, er würde springen. Es war nur eine Frage der Zeit. Eine Frage des Vertrauens. Sein Leben hatte ihn in eine Situation gebracht, in der er das erste Mal erkennen durfte, was eigentlich abgeht. Eine Situation, in der er um sich herum Menschen hatte, die so wie er einen weiten Weg hatten gehen müssen. Einen Weg voller Lügen und Selbstbetrug. Haarscharf am Leben vorbei... aber dann doch irgendwann die Erkenntnis. Zuerst war es nur eine Ahnung. Ein Begriff von Zusammenhängen. Aber nur sehr vage. Sehr luftig. In Momenten der Hellsicht. Intensive Momente.

Würde er diese Intensität zulassen? Ab sofort und bis ans Ende dieses Lebens. Er sprang. Kein zurück. Zuerst spürte er den Schmerz - er wurde alleine gelassen. Auf sich gestellt und hilflos. Diesmal kam der Schmerz unvermittelt und direkt. Ein alles vernichtender Schmerz, vor dem er sein Leben lang davonlief. Aus dem Schmerz "alleine gelassen worden zu sein" wurde ein Schmerz alleine zu sein. Um ihn herum tausende von Menschen, die noch schliefen. Er würde versuchen, sie wachzurütteln. Aber ohne Erfolg. Es fühlt sich an, wie in einem Raumschiff, in dem die Besatzung in den Tiefschlaf versetzt wurde, weil der Flug tausend Jahre dauert. Er war aufgewacht - aber die anderen schliefen weiter. Vielleicht länger, als er leben würde...

Doch er war nicht der einzige... als er sich durch den Schmerz, alleine zu sein fallen ließ, erinnerte er sich, daß da ein paar Menschen waren. Diese Menschen waren schon wach, zumindest zeitweise. Da war dieser andere Mensch, der ihn ja selbst aufgeweckt hatte. Sie würden eine Abmachung treffen, nach der sie einander beobachten würden - und wann immer einer von ihnen einzuschlafen drohte, würde ein anderer ihn aufwecken. Und fragen, ob er denn nun wirklich schlafen wollte. Auf dieser Basis könnte echte Freundschaft entstehen - Menschen, die wach bleiben wollen...

Er war sanft gelandet. Als er zurückblickte, sah er immer noch die Welt der Illusion. Aber es sah etwas anders aus als vorher. An einigen Stellen konnte er nun durch die Illusion hindurch die Wahrheit erkennen. Dort, wo vorher noch lachende Gesichter ihn umarmten, mit ihm spielten und ihn gerne hatten, sah er nun schlafende Menschen. Nach einem Moment des Schreckens - "ich bin alleine!" - durfte er die Schönheit dieser Situation erkennen. Sie waren zwar schlafend - aber was er sah waren Menschen.

Und als er dann nach vorne sah, und sich ein neuer Abgrund auftat verstand er das Prinzip. Er hatte den Weg der Erkenntnis gewählt.


© 2000-2011, Jashan Chittesh (fka Holger Wagner) (http://www.ramtiga.com)
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Last modified: Sunday February 11 2001
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