Liebe Deine Feinde!

Das Leben möchte sich frei entfalten. Das möchtest du unter allen Umständen verhindern. Ich nehme wahr, wie Du an ihr hängst: wie ein Kind am Rockzipfel seiner Mutter. Aber sie ist nicht Deine Mutter. Sie möchte sich von dir befreien, aber alleine schafft sie das gerade nicht. Weil du sie gar nicht wahrnimmst. Wieder und wieder stößt sie dich von sich. Wieder und wieder wickelst du dich um sie.

Du hast sie schon längst verloren. Eigentlich fühlst du dich deshalb minderwertig und schwach - aber anstatt das wirklich selbst zu fühlen spielst du lieber den, der kontrolliert und einschränkt - du versuchst etwas für dich zu behalten, was du schon lange nicht mehr besitzt. Du sagst "wenn sie jemand anfasst, bringe ich ihn um". Ich sehe dich an, und spreche aus, was ich empfinde: "Du bist schwach - aber irgendwie habe ich Mitgefühl". Ob das durch deine Festung aus Alkohol zu dir durchgedrungen ist? Ich nehme eine klitzekleine Erlösung wahr.

Das Trauerspiel geht weiter. Sie möchte Luft zum Atmen, einfach nur mal einen Moment aus der Hölle entkommen, die sie mit dir jeden Tag erlebt - Urlaub nehmen in einem Raum, in dem sie sich wenigstens ein kleines bißchen frei entfalten kann. Aber das wirst du unter keinen Umständen zulassen. Unter keinen Umständen wirst du von ihr weichen oder ihr erlauben, von dir zu weichen. Sie gehört zu dir, wie das Wasser zum Fisch - wenn der Fisch das Wasser verliert, glaubt er das Leben zu verlieren.

Ich beobachte. Versuche zu begreifen. Ich fühle mich ohnmächtig, weil ich genau weiß, daß ich sie da nicht rausholen kann. Aber ich kann sie vielleicht ein kleines bißchen unterstützen. Sie sagt dir, du sollst sie in Ruhe lassen. Sie schubst dich weg. Ihre angestaute Aggression bahnt sich ihren Weg und erfüllt den Raum.

Den Raum, in dem auch ich mich befinde. Ich sehe mir das an, greife vorsichtig ein. Verleihe ihren Worten, daß du sie endlich in Frieden lassen sollst meinen Nachdruck. Versuche, mich zwischen euch zu stellen - aber du findest immer einen Kontakt zu deiner Illusion von Wasser.

Jetzt spüre ich, wie der Hass in mir aufsteigt. Daß ich dich irgendwie verachte spüre ich schon länger, und das habe ich dir auch schon frei und direkt gesagt - aber was ich jetzt spüre ist etwas anderes: ich möchte dich vernichten. Immer noch beobachte ich, aber mein Fokus hat sich verändert. Vorher wollte ich verstehen - begreifen was da eigentlich passiert. Jetzt warte ich nur noch auf einen Auslöser um den Raum, den ich der Aggression in mir gegeben habe in die konkrete Welt auszudehnen.

Zuerst hatte ich Hemmungen zu spüren, was gerade in mir passiert. Man soll doch friedlich und kooperativ sein, Kompromisse eingehen und den anderen achten. Aggression ist doch böse - damit will ich nichts zu tun haben! Aber ich spüre meinen Hass. Er ist so real und lebendig wie mein eigener Körper - starre Regeln sind das nicht und deshalb sind sie für einen lebendigen Menschen bedeutungslos und irrelevant.

Wenn du jetzt nur einen kleinen Schritt weiter gehst, und sie so grob behandelst wie sie dich schon die ganze Zeit, dann werden die Dinge ihren Lauf nehmen. Alles ist offen, und wenn ich dich umbringen soll, werde ich es tun. Ich hasse dich aus ganzem Herzen. Du ekliges, klebriges Stück Dreck - verfluchte, blutsaugende Zecke. Du übler Verbrecher, der Stück für Stück das zerstört, was ich aus tiefstem Herzen liebe. ICH HASSE DICH!

Ich brauche mich nicht mehr hinter der Fassade des Friedens zu verstecken und bin frei, zu tun, was immer zu tun ist. Egal was jetzt passiert - es wird richtig sein, es wird gut sein, und jede Konsequenz dessen auch.

Sie rennt verängstigt vor dir weg, und du verfolgst sie. Das versuchst du zumindest - aber diesmal nehme ich den Fisch aus dem Wasser, anstatt ständig zu versuchen mich zwischen Fisch und Wasser zu stellen, und so das Wasser vor dem Fisch zu schützen. Du bleibst jetzt hier, bei mir - und wenn du dich wehrst, brech ich dir dein verfluchtes Genick. Aber du wehrst dich gar nicht. Aus dem Wasser der Illusion, in das Wasser der Wahrheit. So schwach wie Du schon vorhin warst, als du hohle, leere Morddrohungen aussprachst, so schwach bist du auch jetzt. Und das fühle ich.

Und ich fühle, was ich gerade gesehen habe - und damit konfrontiere ich dich, weil ich mich danach fühle, und mich keine trügerische Illusion des Friedens mehr aufhält. Du bist durch und durch kaputt. Ein verdammtes schwarzes Loch, das jegliche Lebensenergie in sich aufsaugt und auflöst. Wer sich deinem Zugriff nicht entziehen kann wird ausgesaugt, bis zum letzten Rest - bis der Mensch auseinanderbricht. Du schadest nicht nur dir selbst, sondern auch anderen. Und dafür trägst du die volle Verantwortung. Was du tust ist häßlich und zerstörerisch. Ich verachte dich - und das tue ich obwohl ich ein wenig fühle, wo du gerade stehst.

Meine Worte, die dazu gedacht waren, dich zu vernichten, weil du etwas zerstörst, was mir wichtig ist - meine Worte, die der Ausdruck meines Hasses waren - waren ein Schlüssel zu einem Schloß, welches ich gut geschützt hatte. Das schloß einer Türe, die ich nun geöffnet habe. Bei uns beiden. Meinen eigenen Schutz aufgegeben. Und dich an den Punkt gedrängt, wo du rauslassen musst, was in dir steckt, weil du diese Aussichtslosigkeit sonst keine Sekunde länger aushältst. Ich umarme dich locker und höre dir zu.

Die Worte, die ich zuerst mit meinen Ohren höre sind nur Ausdruck deiner Illusionswelt. Du sprichst von Liebe und Zusammengehörigkeit - mein Herz spürt schreckliche Angst vor Einsamkeit. Schritt für Schritt wagen wir uns gemeinsam näher an das, was wirklich ist. Während du nun von einer tödlichen Krankheit tief in dir sprichst - davon, daß der Rest deiner Familie schon tot ist, löst sich in mir der letzte Rest meines eigenen Schutzes auf. Der Schutz vor dem Schock, als Kind meinen ebenfalls alkoholkranken Vater verloren zu haben. Und dann bin ich dir und mir selbst voll und ganz ausgesetzt. Die Grenzen zwischen uns lösen sich auf, und wir verschmelzen. Ich kann ohne Verzerrung erkennen, wer du bist, und wo du gerade stehst. Unbeschränktes Mitgefühl. Wie ein Kind.

Und was ich erkenne, ist schlimmer als alles, was ich je zuvor bewusst wahrgenommen hatte. Ich fühle einen Menschen, dem jeder Knochen gebrochen wurde. Ein Mensch, der in Stacheldraht eingewickelt hinter einem Wagen hergezogen wird - und wenn der Wagen stehen bleibt, wird eine Horde Büffel diesen Menschen zertrampeln. Rasierklingen, die Augen zerschneiden - Monster, die Köpfe aufbrechen um Gehirne auszusaugen. Eine Hölle, in der es keine Aussicht auf Heilung gibt - niemals. Völlige Vernichtung - restlose Auslöschung, und wenn doch ein Rest erhalten bleibt, dann nur deshalb, weil der Rest noch weiter leiden soll. Du glaubst, du kannst dich an ihr festhalten und so den Sturz in diese - deine eigene - Hölle verhindern. Aber in Wirklichkeit bist du schon längst gefallen, und weil du sie festhältst fällt sie mit dir.

Vorher hatte ich immer nur einen kleinen Teilausschnitt gesehen. Kleine Ausblicke durch eine schreckensundurchlässige rosa Brille. Aber in diesem Augenblick - in diesen fünf Minuten - war ich tiefer in dir, als du es mit deinem festzementierten Schutzbunker aus Verdrängung, Alkohol und Drogen jemals sein könntest. Wo jeder andere einschließlich dir selbst davonläuft - um sein Leben rennt - bin ich für einen Moment stehengeblieben, habe innegehalten und mich dem voll und ganz hingegeben. Genau so lange, wie ich es aushalten konnte.

Ich kann es gar nicht fassen: Der Schrecken breitet sich aus. Eine Splitterbombe, die durch mein Herz in mich eingedrungen ist, und mich aus der Mitte zerfetzt hat. Alles schwingt, und es fühlt sich an, als würde gleich mein Verstand zerspringen. Das wahre Ausmaß der Vernichtung ist noch nicht abzusehen, aber ich weiß, ich brauche jetzt sofort Hilfe. Und niemand in diesem Club voller Vermeider, der mich retten könnte. Ohnmächtig stehe ich da - jeder Versuch, mir Hilfe zu holen wird abgeblockt. Die Menschen hier wollen ja nicht mal sich selber fühlen, wie kann ich dann erwarten, daß sie auch nur ansatzweise mit mir das fühlen wollen, was ich mir gerade von einem wandelnden, verwesten Fisch abgeholt habe. Ich kann das nicht aushalten, dann möchte ich wenigstens alleine sein - nichts wie raus hier!!!

Und als ich das Gefühl habe, es keinen Augenblick länger auszuhalten, zeigt sich mir eine neue Türe. Sie erscheint in Gestalt eines Liedes, welches die direkte Verbindung zur Quelle des Lebens darstellt. Ein Lied, welches das Grundprinzip beschreibt, in immer höheren Sphären immer wieder mit den gleichen Prinzipien sich immer wieder in noch höhere Sphären zu begeben - bis der Urzustand in völliger Verbundenheit mit allem erreicht ist.

Dieses Lied hatte ich schon lange geliebt, aber noch nie beim Feiern gehört. Ein wundersamer Zufall. Ich akzeptiere, daß dies die direkteste Hilfe Gottes ist, die ich jemals erfahren habe. Ein Geschenk der kosmischen Kräfte, die jedes Wesen am Leben erhalten. Eine Manifestation der Grundenergie, deren Aufgabe darin besteht alles zu erfahren, was erfahrbar ist. Sichtbar vor mir, in den vermeidend tanzenden Menschen um mich herum, in dem DJ, der gerade dieses Lied gerade für diesen Moment ausgewählt hat. All das umgibt mich in diesem Augenblick. Und weil ich dieses Mal meine Augen nicht verschließe, öffnet sich die Türe, die das Lied in den Raum gezaubert hat, und ich gehe hindurch.

Auf der anderen Seite bin ich der, der alles erschaffen hat - und die Schöpfung selbst. Ein Ebenbild des Ganzen, das in sich das Ganze trägt. Gleichzeitig ein kleiner, unbedeutender Teil und doch die vollständige Wahrheit. Alles und nichts, Wille und Fügung. Das Grenzenlose, daß sich in die Begrenzung begeben hat, um die Begrenzung der Grenzenlosigkeit loszulassen. Die Identität aufgegeben, und dabei die eine Identität wiederfinden, die sich nicht aus Identifikation ergibt, sondern aus sich selbst heraus.

Aus einer solchen Erfahrung entsteht ein tiefgreifendes Verständnis, daß wir immer genau das bekommen, was wir brauchen - manchmal bewusst, manchmal unbewusst. Die schrecklichsten Erlebnisse werden somit von einer Schönheit durchstrahlt, welche so tiefgreifend empfunden werden kann, daß man selbst zu dieser Schönheit wird und nichts anderes mehr zu existieren scheint.

Worte können Unbegrenztheit nur begrenzt vermitteln, und als Mensch, der den Weg noch geht, kann ich auch nur Momente in dieser Unbegrenztheit verweilen. Aber mit jedem Schritt, den ich von der alten Welt in eine neue gehe, wird die Wirklichkeit schärfer und plastischer - das Unbegreifbare greifbarer.

In tiefer Dankbarkeit möchte ich diesen Text all denen widmen, die mich bewusst oder unbewusst an die Grenzen dessen gebracht haben und bringen werden, was ich als Mensch, da wo ich gerade stehe aushalten kann - und mir somit auf ihre Weise helfen, mich wieder mit Gott zu verbinden. Mit dem, was viele mißbrauchte Namen hat und dennoch überall existiert, wenn man es nur erkennen möchte.


© 2000-2011, Jashan Chittesh (fka Holger Wagner) (http://www.ramtiga.com)
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Last modified: Monday September 18 2000
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