Mindless (2. Teil)

Auf einmal war alles anders. Ich bin wohl wegen eines Geräusches aufgewacht. Da es dunkel war, vermutete ich, es sei mitten in der Nacht. Ich stand auf, sah mich im Raum um. Versuchte zu hören, was mich geweckt hatte. Dabei fiel mir auf, daß ich erstaunlich wach war. Wie spät war es denn nun eigentlich?

Falsche Frage. Wo war ich denn nun wirklich? Was war passiert?

Was würde passieren?

Langsam versinke ich. Das Bett unter mir gibt nach. Ich durchdringe zuerst das Bettlaken. Dann die Stoffhülle. Dann die Plastikhülle. Ich erfülle das Wasser in meinem Bett. Es ist warm. Ich zerfließe. Könnte jemand sehen, daß aus dem Wasser Blut wurde, wäre das sicher ein bizarrer Anblick. Es ist aber niemand da, der mich sieht. Ich bin alleine. Verloren in einem Zimmer in einem Haus in einem Wald. Wo früher eine Stadt war. Wo eigentlich Tag ist. Wo, wenn es schon Nacht ist, wenigstens die Sterne und der Mond scheinen sollten.

Das Blut verdichtet sich. Leben. Eine Hülle umschließt das Blut. Außen Wasser. Aus den Augen, die zuerst geschlossen waren, und sich nun langsam öffnen tritt Blut aus. Es gibt keine Augäpfel die irgendetwas sehen können. Der Körper zerfliesst. Der Versuch ist gescheitert.

Angst.

Wasser und Blut vermischt. Blut verdichtet sich zu einem Körper. Der Körper wird von einer Haut umschlossen. Die Augen sind fest zusammengekniffen. Nichts passiert. Der Körper lebt. Im Kopf bildet sich ein Gehirn. Augen. Schädel. Luft- und Speiseröhre. In der Hauthülle steckt nun ein Körper. Ohne Bewusstsein. Das Bewusstsein kehrt zurück. Die Augen öffnen sich. Um den Körper Wasser. Dunkelheit. Wärme. Der Körper braucht nicht atmen. Außen Geräusche. Es ist so verdammt eng hier!

Als sich meine neue Heimat öffnet, und ich mit meinem Körper in eine neue Welt geboren werde, sind meine Augen noch nicht fähig, zu erkennen, was hier passiert.

Erst Jahre später erkenne ich, was hier passiert. Jede Sekunde. Jede Stunde. Überall. Fast überall - ich weiß nicht wo nicht. Vielleicht wirklich nicht überall. Aber fast überall kommen leuchtende Gestalten auf die Welt. Unschuldige Engel, die voller Kraft und Energie antreten, ihre Berufung zu erfüllen. Doch die Welt, in der sie antreten ist bevölkert von lebendigen Leichen. Zombies, die an der Oberfläche aussehen, wie gesunde Menschen. Erst, wenn sie mit der Wahrheit konfrontiert werden - mit unschuldigen Engeln voller Kraft und Energie - erst dann sehen sie ihre wahren Gesichter.

Aber wer will das schon. Die Wahrheit ist grausam und brutal. Wenn wir den Kindern die Augen rausreißen, sehen sie nicht mehr, wie häßlich wir sind. Dann zerfetzen wir ihre Kehlen, so daß sie die Wahrheit nur noch grunzen können. Und schließlich brechen wir ihre Schädel auf und essen ihr Gehirn. Eigentlich glauben wir, daß wir dadurch ihre Kraft und Energie gewinnen können. Aber falls das nicht klappt, haben wir sie zumindest zu einem von uns gemacht. Zu einem weiteren lebenden Toten. Damit wir nicht mehr sehen müssen, daß wir gar nicht leben.

Doch tief im Inneren sind wir wie Kinder. Wenn wir die Angst überwinden, uns zu sehen, wie wir jetzt wirklich sind - häßlich und ohne Leben - können wir die Wunden heilen. So lange die Wunden versteckt sind unter Reichtum, Schönheit und Macht - so lange werden die Wunden bluten, und jedes Mal, wenn jemand versehentlich die Wunde berührt, wird ihm eine unserer Klauen selbst eine tiefe neue Wunde reißen. Versteckt unter den Notwendigkeiten der Gesellschaft - kodiert in die Sprache des Anstands und guten Benehmens. Kodiert in Hierarchien und Erfolgsstories - bei denen niemals von den Verlierern berichtet wird. Außer wenn die Schuld auf jemand anderes geschoben werden soll.

Dieser Code ist die Matrix, in der wir alle Leben. So lange wir nicht leben. Nach der Geburt wird das Leben durch Regeln ersetzt - damit auch ja niemand euch davon erzählt, daß ihr in einer Traumwelt aus Illusionen vor euch hin vegetiert. Ständig darauf bedacht, die Illusionen aufrecht zu erhalten - und alles vernichtend, was diese Illusionen enttarnen könnte.

Aber wie jedes System, so reagiert auch dieses auf externe Einflüsse. Es wird sich anpassen müssen, wenn Dinge passieren, die kodiert keinen Sinn mehr ergeben. Je mehr Menschen die Matrix verlassen, und in einer illusionsfreien Welt leben - desto stärker wird der Einfluß auf das System. Desto weniger Sinn machen die Codes - desto schwerer wird es, mit ihnen die Wahrheit zu verdecken. So werden mehr Menschen ihre Illusionen verlieren.

Am Ende des Tunnels ist ein Licht.


© 2000-2011, Jashan Chittesh (fka Holger Wagner) (http://www.ramtiga.com)
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Last modified: Monday September 18 2000
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